Aber das ist unfair!
Bevor Melanie das Haus verließ, freute sie sich über das schöne Wetter. „Herrlich! Ich werde ein bisschen spazieren und dann die U-Bahn nehmen“, dachte sie. Gut gelaunt lief sie bis zum U-Bahn-Eingang. Sie liebte es, ihre Umgebung und die Menschen zu beobachten. Obwohl sie ein Auto hatte, fuhr sie oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln – einfach, um das bunte Treiben um sich herum wahrzunehmen. „Ich bin bereit für ein weiteres kleines U-Bahn-Abenteuer“, dachte sie schmunzelnd.
Als sie die Treppe hinunterging, fiel ihr ein kleiner Junge auf, der weinend an der Hand seiner Mutter zog. Er verlangte etwas von ihr, mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung in der Stimme. Die Frau hatte zwei Kinder und der Altersunterschied zwischen ihnen schien nicht groß zu sein.
– „Aber du hast es meinem Bruder gekauft und mir nicht! Das ist unfair!“ rief der Junge aufgebracht.
– „Kaufe ich denn immer alles doppelt? Letzte Woche habe ich dir ein Spielzeug gekauft, aber deinem Bruder nicht. War das damals auch unfair?“
– „Aber er hat nicht darum gebeten!“
– „Doch, das hat er. Aber er ist schon zu alt für Spielzeug, also habe ich es ihm nicht gekauft. Jetzt braucht dein Bruder Dinge für die Schule, die nur er verwenden kann. Deshalb kaufe ich sie dir nicht.“
– „Ich will aber genau dasselbe! Ich will auch diese Wasserfarben!“
– „Du hast doch Buntstifte zum Malen. Neue Farben brauchst du nicht.“
– „Aber das ist unfair!“
Sie stiegen hastig in die U-Bahn. Als sie sich nebeneinander setzten, begegneten sich ihre Blicke. Melanie lächelte der Mutter zu. Der Junge zupfte noch immer an ihrem Rock. Die Frau bemerkte, dass Melanie das Gespräch mitbekommen hatte, seufzte und begann zu erzählen.
Es war nicht das erste Mal, dass es Streit zwischen den Geschwistern gab. Sie war es leid, immer wieder für Gerechtigkeit sorgen zu müssen. „Du liebst meinen Bruder sowieso mehr als mich“, bekam sie ständig zu hören. Dabei behandelte sie ihre Kinder nicht unfair – sie ging lediglich auf ihre jeweiligen Bedürfnisse ein. War einer krank, kümmerte sie sich intensiver um ihn. Hatte jemand eine Frage zu den Hausaufgaben, half sie. Auf dem Spielplatz behielt sie den Jüngeren genauer im Auge, während der Ältere bereits selbstständiger war. Auch beim Essen achtete sie stärker auf den Jüngeren, da er mit seinem Gewicht zu kämpfen hatte.
Während Melanie der Mutter zuhörte, wurde ihr etwas bewusst: In letzter Zeit begegneten ihr immer wieder Situationen, die mit Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu tun hatten.
Erst vor wenigen Tagen hatte sie in einer Praxis eine ähnliche Situation erlebt. Das Computersystem ist abgestürzt, wodurch sich die Termine der Patienten überschnitten hatten. Als das System wieder funktionierte, gab die Praxis älteren und schwerer erkrankten Patienten den Vorrang. Doch sofort gab es Proteste: „Das ist unfair! Niemand darf bevorzugt werden! Wir sind alle gleich!“
Aber waren wir wirklich alle gleich?
Seit diesem Tag ging ihr diese Frage nicht mehr aus dem Kopf. Sie beobachtete ihr Umfeld genau, um eine Antwort darauf zu finden. Was bedeutete Gleichheit überhaupt? Bedeutete es, dass alle dasselbe bekamen? Und wenn ja – war das wirklich gerecht? Waren alle Patienten gleich krank? Hatten sie das gleiche Alter? Litt jeder unter den gleichen Schmerzen? Hatte nicht einer die Praxis direkt vor der Tür, während ein anderer im Morgengrauen aufgebrochen war, um pünktlich da zu sein?
Der Junge in der U-Bahn wollte mit seinem Bruder gleichgestellt werden. Der Patient beim Hausarzt wollte genauso behandelt werden wie alle anderen. Und auch in unserer Gesellschaft wird oft von Gleichberechtigung gesprochen – aber können zwei Menschen wirklich vollkommen gleich sein?
Melanie dachte an ihre eigenen Geschwister. Waren sie alle gleich? Natürlich nicht.
• Unsere körperlichen Merkmale,
• unsere Charaktere,
• unsere Berufe,
• unsere Erwartungen ans Leben,
• unsere Probleme und unsere Sichtweisen darauf,
• unsere Interessen, Wünsche und Leidenschaften – all das unterschied sich.
Nicht nur sie – so war es in fast allen Familien. Selbst Zwillinge waren nicht völlig identisch. Sie hatten vielleicht ähnliche Eigenschaften aber sie waren dennoch einzigartige Individuen. Wenn nicht einmal Geschwister gleich waren, wie sollten dann zwei fremde Menschen es sein?
Es gibt Milliarden von Menschen auf der Welt, doch kein einziger gleicht dem anderen. Man könnte denken, dass alle Menschen mit braunen Augen dieselbe Augenfarbe haben – aber die Nuancen sind unterschiedlich. Kein Fingerabdruck ist identisch. Nicht einmal die Finger derselben Hand sind völlig gleich. Sogar unsere beiden Hände unterscheiden sich in Kraft und Muskelstruktur.
Wäre absolute Gleichheit wirklich gerecht? Wenn ja, müssten alle Menschen denselben Beruf haben und dasselbe Gehalt bekommen. Aber so funktioniert die Welt nicht. Selbst in einem Berufsfeld gibt es Unterschiede – nicht jeder verdient dasselbe, sondern wird nach Erfahrung und Leistung bezahlt.
Haben nicht auch alle Menschen unterschiedliche Herausforderungen im Leben?
Melanie blickte nachdenklich aus dem Fenster. Selbst in der Natur gab es keine absolute Gleichheit. Zwei Veilchen, die am selben Ort mit denselben Bedingungen wachsen – eines blüht, das andere verwelkt. Die Sommer zweier aufeinanderfolgender Jahre sind nie genau gleich.
Die Erfahrungsdesign Lehre besagt: „Es gibt keine Gleichheit, sondern Gerechtigkeit.“
Wann handelt ein Mensch wirklich gerecht? Wenn er alle gleich behandelt – oder wenn er jedem gibt, was er wirklich braucht und verdient?
Egal, ob als Mutter, Kind, Partner, Arbeitgeber, Freund oder Nachbar – wann ist man wirklich fair?
Denn das Entscheidende ist nicht, alle gleich zu behandeln, sondern gerecht zu handeln.
&
Die Erfahrungsdesign Lehre ermöglicht es uns, unser Leben mit konsistenten, anwendbaren, verständlichen und nützlichen Informationen zu erleichtern. Mit diesem Wissen lernt man, wie man effektiver mit der Familie, Freunden und Kunden kommunizieren kann.
GERECHTIGKEIT IST GUT...
YanıtlaSil„Es gibt keine Gleichheit, sondern Gerechtigkeit.“
YanıtlaSilWo Gerechtigkeit herrscht, kann es keine Gleichheit geben. Wenn wir alles gleichmachen, gibt es keine Gerechtigkeit. Gleichheit macht das Schlechte zum standard.
YanıtlaSilVielen Dank, lieber Autor, für Ihre Mühe.🌷